"Antisemitismus kann man nicht mit Rassismus bekämpfen" - Bericht über die Tagung in Dortmund

Kirsten Ben Haddou leitet in die Thematik ein.

Shai Hoffmann moderiert lebhafte Diskussionen.

Ein Blick auf die Referent*innen und das Publikum.

Begriffe erklären Iskandar Abdalla und Polina Khubbeeva.
Auf den Schulhöfen, im Alltag und in der politischen Bildungsarbeit trennt die Frage „Auf welcher Seite stehst du?“ Menschen in zwei Lager: Jüd*innen und Muslim*innen aller Altersgruppen sehen sich unter Generalverdacht, mit einer Konfliktpartei zu sympathisieren. Die Zahl der Straftaten gegen Muslim*innen und Jüd*innen ist nach dem 7. Oktober 2023 sprunghaft angestiegen und reicht von Beschimpfungen und Beleidigungen bis hin zu gewaltsamen Übergriffen. So hatten der Verein Claim- Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit und der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS e.V.) im Juni 2024 über eine massive Zunahme antimuslimischer und antisemitischer Übergriffe berichtet. Einen ersten, 400 Seiten starken ausführlichen Bericht zu Muslim- und Islamfeindlichkeit hatte der Unabhängige Expertenkreis Muslimfeindlichkeit erstmals im Juli 2023 vorgestellt. Beauftragt wurde dieser vom BMI nach den rassistisch motivierten Morden in Hanau Anfang 2020. Die Ergebnisse der Berichte sowohl zu Antisemitismus als auch zu Muslimfeindlichkeit zeigen deutlich, dass lange vor der jüngsten Eskalation in Nahost Übergriffe bereits an der Tagesordnung waren und entsprechende Präventions- und Bildungsarbeit weit früher hätte ansetzen und ausgebaut werden müssen.
„In den Schulen herrscht eine pro-palästinensische Sichtweise“
„In den Schulen herrscht eine pro-palästinensische Sichtweise, die nicht mehr zulässt, dass der 7. Oktober passiert ist, mit den schlimmsten Taten“, schilderte Shai Hoffmann, deutsch-jüdischer Sozialunternehmer und Host des Podcasts „Über Israel und Palästina reden“. Gemeinsam mit Jouanna Hassoun, die palästinensische Wurzeln hat, geht er, Enkelkind von Holocaust-Überlebenden, in Schulen, tritt mit Schülerinnen und Schülern in einen Trialog über den Nahostkonflikt. „Unsere gemeinsame Basis ist, dass wir das Leid des anderen anerkennen.“
„Das Leid des anderen anerkennen“
Die Jugendlichen, denen sie begegnen, seien hoch emotionalisiert. Dazu trägt auch die Berichterstattung bei auf von Jugendlichen genutzten Social Media -Kanälen. „Es gibt viel Unwissen und Gleichsetzungen“, berichtete Hoffmann. Daher hätten die Jugendlichen viele Fragen: Was genau meint „Staatsräson“? Warum werden trotz Meinungsfreiheit manche israelkritische Aussagen verboten? Warum ist das Wort „Genozid“ ein schwerer Vorwurf?
Wissen und Aufklärung ist nicht nur zu den komplexen Hintergründen des Nahostkonflikts dringend nötig, sondern auch zu gesellschaftlich tief verwurzelten antisemitischen und rassistischen Haltungen. „Man kann aber nicht Antisemitismus mit Rassismus bekämpfen“, so auch Hoffmann. Diese Problematik zieht sich jedoch quer durch alle gesellschaftlichen Institutionen. Es fehlt beispielsweise an flächendeckenden Fortbildungen zur Sensibilisierung von Lehrkräften, wodurch die Moderation der aktuellen Konfliktsituation in der Schülerschaft zusätzlich erschwert wird.
Mit Jugendlichen arbeiten auch Polina Khubbeeva und Iskandar Abdalla vom Projekt „Build Bridges, Not Barriers“ des Berliner Vereins Transaidency. Sie setzen in ihrem Projekt überwiegend biografische Elemente ein, um für die Wirkung von diskriminierenden Äußerungen zu sensibilisieren. „Die Herkunft und die aktuelle Lebensweise von Betroffenen sind bei rassistischen Beleidigungen ganz egal“, schilderte der gebürtige Ägypter und Islamwissenschaftler Iskandar Abdalla. Das immergleiche Muster der Diskriminierung, die in eine Gewaltspirale führen kann, sei das Othering: Eine angeblich homogene Gruppenidentität wird gegen „die Anderen“ abgegrenzt. So entstehe auch ein Machtgefälle zwischen angeblich Überlegenen und Unterlegenen. Rassismus habe sowohl eine individuelle als auch strukturelle Dimension.
Ergänzend zu den Fachinputs wurden in Workshops Handlungs- und Argumentationsstrategien für die alltägliche Arbeit der Teilnehmenden entwickelt. Jakob Nikfarjam, Referent für internationales Recht beim DRK-Generalsekretariat in Berlin, beleuchtete zudem die völkerrechtliche Situation des Konflikts. Der Vorwurf des Völkermordes beschäftige aktuell den internationalen Gerichtshof in Den Haag. Agnes Hasenjäger vom Friedensbüro Hannover e.V. berichtete über bewährte Strategien der Friedens- und Versöhnungsarbeit.
Dr. Peter Waldmann und Mustafa Cimşit vom jüdisch-muslimischem Bildungswerk Maimonides sensibilisierten in ihrem Workshop für Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Judentum und Islam, um über falsche Darstellungen aufzuklären.
Bei der abschließenden Podiumsdiskussion machten die Referentinnen und Referenten auch deutlich, wie sich ihre Arbeit in der politischen Bildung seit dem 7. Oktober verändert hat: „Wir bieten immer noch Führungen durch unsere Synagoge an für Schulklassen. Aber neuerdings ist auffällig häufig zufällig die halbe Klasse an diesem Tag krankgemeldet“, berichtete Micha Neumann von der Servicestelle für Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus (ADIRA). Die Guides wurden außerdem schon mehrfach mit dem Vorwurf konfrontiert, Geld und Waffen nach Israel zu senden. „Wir beobachten eine Enthemmung, wie wir sie noch nicht erlebt haben.“ Die Haltung zum Nahostkonflikt oder auch persönliche Betroffenheit des Gegenübers werde nicht hinterfragt, obwohl die so Beschuldigten oft selbst mit widersprüchlichen Gefühlen zu kämpfen haben, wenn sie zum Beispiel um Personen auf israelischer oder auch palästinensischer Seite bangen oder trauern.
Auch in der interkulturellen Zusammenarbeit in der Erwachsenenbildung reiße die Frage „Wo stehst du?“ Gräben auf. „Menschen, die nicht gelernt haben, diese schwierigen Widersprüche und ihre Gefühle zu reflektieren, übersetzen dies dann häufig in Aggressionen“, schilderte May Zeidani Yufanyi, freiberufliche Erwachsenenbildnerin mit jüdischer Mutter und palästinensischem Vater.
Engagiert diskutiert wurde auch die Frage, wie Polizei, Politik und Medien die aufgeladenen Diskussionen und Demonstrationen darstellen und bewerten. Die palästinensische Perspektive finde fast nie Niederschlag, sagten Gesprächsteilnehmende. Und dass bestimmte Parolen und Begriffe verboten werden, sei eine Einschränkung der Meinungsfreiheit. Man müsse doch Empörung äußern dürfen, wenn Kinder durch die Kriegshandlungen ums Leben kommen.
Gerade die Anspielung auf die christliche Ritualmordlegende sei jedoch ein jahrhundertealtes und wirkmächtiges antisemitisches Stereotyp. Ein Code, der darauf abziele, Israel zu dämonisieren, hieß das Gegenargument. Seltsamerweise werde der Vorwurf, dass Kinder sterben, fast nie in anderen Kriegen erhoben. Dies sei ein weiteres Beispiel dafür, dass Bildungs- und Aufklärungsarbeit verstärkt werden müssten, um solche Narrative bewusst zu machen.
„Wir brauchen gerade jetzt mehr Sensibilisierung, mehr Bildung und mehr Zusammenarbeit"
„Antisemitismus bleibt ein Querschnittsthema“, analysierte Simon Hölscher vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit (IDA- NRW). Der aktuelle Nahostkonflikt zeige, wie Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit zu einer gruppenbezogenen Menschenverachtung verquickt werden, um rechtsextreme und demokratiefeindliche Positionen zu stärken. Minderheiten würden gegeneinander ausgespielt, Feindbilder befeuert.
„Wir brauchen gerade jetzt mehr Sensibilisierung, mehr Bildung und mehr Zusammenarbeit – auch wenn das im Moment sehr schwierig erscheint“, schloss Kirsten Ben Haddou, Leiterin des Fachbereichs Beruf international und Migration im Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk e. V. in Dortmund (IBB e.V.). „Dabei lernen wir auch aus dieser Veranstaltung, dass ein offener Austausch sehr wohl möglich und für alle Seiten aufschlussreich und weiterführend ist.“
Die Fachtagung im Rahmen des Projekts fokusplus wurde aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der EU gefördert.
Weitergehende Informationen und eine ausführliche Dokumentation finden Sie (in Kürze) hier.
In unserem Projekt fokusplus bieten wird kultursensible Fortbildungen für Interessierte aus dem Sozial- und Bildungsbereich wie auch aus Handel, Dienstleistung und Industrie. Sprechen Sie uns gerne an!
Über das Projekt „fokusplus“:
Mit dem neuen Projekt „fokusplus “ knüpft das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund an die Vorgängerprojekte fokus – Fortbildungen kultursensibel – an und erweitert die Zielgruppe auf Akteure der freien Wirtschaft. „fokusplus“ bietet Inhouse-Schulungen, Tagungen, Seminare, Vorträgen und aktuelles Wissen zur kultursensiblen Arbeit mit Zugewanderten aus Drittstaaten. Die Veranstaltungen richten sich an interessierte Haupt- und Ehrenamtliche in der Arbeit mit Zugewanderten im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen, in staatlichen Einrichtungen und in Unternehmen aus dem gesamten Bundesgebiet. „fokusplus“ fördert zudem die Netzwerkbildung und den Erfahrungsaustausch.